„Wenn Mozart heute leben würde…“

Wenn Mozart heute leben würde, würde er die Klavierkonzerte von Chopin komponieren, behauptete Robert Schumann in einem seiner Artikel über Chopin und dessen Werke. Tatsächlich tauchen die beiden großen Namen recht oft nebeneinander auf - und dabei bezeichnet man Mozart häufig als Chopin des 18. Jahrhunderts oder umgekehrt Chopin als Mozart des 19. Jahrhunderts. Es ist interessant zu verfolgen, welche konkreten Eigenschaften ihrer Werke Gemeinsamkeiten aufweisen, die mehrere Musiker und Wissenschaftler zu einem solchen Schluss kommen lassen.

Was fällt uns sofort auf, wenn die ersten Takte ihrer Musik erklingen? Natürlich die Melodie. Melodien schweben buchstäblich ab den ersten Tönen über der ganzen Faktur oben und lassen die Stimmung der Kompositionen sofort deutlich heraushören. So sprechen wir von einer besonderen melodischen Begabung dieser Künstler, die nicht ganz selbstverständlich ist. Nicht selten finden sich bei Komponisten Extreme bei der melodischen Ausgestaltung: Entweder sind Melodien zu banal und rühren daher in keiner Weise, oder sind so ausgeklügelt und werden so verwinkelt aufgebaut, dass man sie nicht mehr wirklich genießen und teils auch nicht ohne erhebliche Anstrengung des Gehörs und der Aufmerksamkeit verfolgen kann. Die Mozart’sche und Chopin’sche melodische Führung ist dagegen einer anderen Natur. Natürlich gibt es auch bei ihnen Fälle, besonders bei Chopin in seinem späteren Schaffen, wo Melodien eine deutlich entwickelte Struktur und einen ungewöhnlich langen Atem haben. Aber die Ausnahmen hier bestätigen eher die Regel, denn das Streben nach einer verständlich strukturierten melodischen Aussage bleibt im Mittelpunkt.

Wenn man weiter über die Struktur der Werke spricht, ist auch darauf hinzuweisen, dass sowohl Mozart als auch Chopin klare Formen bevorzugen. Die Überschaubarkeit aller Themen, die Nachvollziehbarkeit deren Entwicklung, lassen kristallklare musikalische Konstrukte entstehen, wo sich alle Bestandteile des thematischen Materials im ausgeglichenen Verhältnis zueinander befinden. Das bedeutet natürlich nicht, dass alle ihre Werke gleiche Schemata haben. Auch im Rahmen einer Gattung, seien es beispielsweise Fantasien oder Sonaten, weisen die beiden Komponisten eine faszinierend große Gestaltungsvielfalt und -freiheit auf, denn jedes Werk ist natürlich mit bestimmen Inhalten verbunden und somit einzigartig. Aber auch in den – für ihre Verhältnisse – kompliziertesten Kompositionen geht die strukturelle Klarheit nie verloren. Darin besteht unter anderem auch der Grund, warum gerade Mozart und Chopin bei Anfängern, nicht musikalisch ausgebildeten Zuhörern und Laien immer großes Interesse finden – die strukturelle Klarheit erleichtert die Wahrnehmung erheblich und lässt die Musik unmittelbar genießen, anstatt sich anstrengen zu müssen, um alle Abläufe und Entwicklungen innerhalb des Werks rechtzeitig verfolgen zu können.

Eine weitere, bemerkenswerte Gemeinsamkeit von Mozart und Chopin ist die Verwendung von Chromatik zwecks der variablen Entwicklung von Melodien. Speziell gemeinsam ist den beiden, dass nach dem ersten Erscheinen von Themen, deren weitere Einsätze keine bloßen Wiederholungen sind, sondern mittels Einführung harmoniefremder Töne entfaltet werden. Das lässt sich in Werken verfolgen, wo die Hauptthemen mehrmals durchgeführt werden, so beispielsweise bei Mozart im Rondo a-Moll und bei Chopin in der Ballade f-Moll. In den beiden Fällen erlangt jeder neue Einsatz des Hauptthemas eine weitere Dimension, eine neue Ausdruckskraft und zieht somit den Leitfaden der dramaturgischen Entwicklung weiter fort. Aufgrund dessen, dass diese beiden Themen in Moll stehen und Träger trauriger Bilder sind, werden sie durch die Chromatik ständig intensiviert und mit immer tiefergehenden Nuancen bereichert. Schon seit der barocken Zeit sorgte die Einführung von harmoniefremden Tönen für die Steigerung der Emotionalität, insbesondere der Leidensgefühle, und diese Tradition findet ihre Fortsetzung sowohl in der Klassik als auch in der Romantik. Aber nicht nur in Themen lassen sich solche Kompositionstechniken verfolgen: In mehreren Episoden tauchen manchmal eine ganze Reihe von chromatisch gestalteten Passagen und Sequenzen auf und bringen eine höhere Instabilität und folglich eine größere Spannung mit sich, sodass eine andere Äußerung Schumanns, Chopin fange mit Dissonanzen an, gehe über Dissonanzen und ende mit Dissonanzen, in einem gewissen Grad auch für Mozart – natürlich nur im Kontext seiner Zeit – gelten kann.

Zum Schluss sei noch die Interpretationsart der beiden Künstler erwähnt, denn beide waren nicht nur großartige Pianisten, sondern interpretierten fast ausschließlich eigene Kompositionen, und aus den Erinnerungen von Zeitgenossen lässt sich eine ziemlich klare Vorstellung davon machen und folglich auch feststellen, welche interpretatorische Herangehensweise eher adäquat wäre. Bei all ihren individuellen Eigenschaften und Unterschieden war für sie eine liebevolle, graziöse, sogar noble Art des Klavierspielens typisch, ohne dynamische, tempo- wie auch ausdrucksmäßige Extreme, ohne jegliche Affektiertheit. Dabei wäre es natürlich falsch, zu denken, ihr Klavierspiel wäre emotionslos, blass oder oberflächlich gewesen – in keinem Fall! Ohne Affektiertheit – aber mit Affekt, denn diese Begriffe sind etwas unterschiedlich aufgeladen. Die Emotionalität ist beiden Künstlern sowohl als Menschen als auch als Komponisten gar nicht abzusprechen, sie erscheinen häufig dramatisch und sogar auch tragisch – aber die Art, in der sie diese Emotionen und Bilder umsetzen, hatte keine Spuren von Forcierung, geschweige denn Grobheit oder Brutalität. Interessant sind in diesem Sinne die Aussagen von Chopin zu Mozart und Beethoven: Bei all seiner Hochachtung und großem Respekt gegenüber Beethoven bevorzugte er eindeutig Mozarts Musik: Beethoven war für ihn viel zu kraftvoll, überwältigend und sogar gewissermaßen unterdrückend durch seine immense Intensität. Mozart dagegen fühlte sich für ihn leicht und schwebend, nicht so „geerdet“ und massiv, eher beflügelnd an. Und sogar das trübste Werks Mozarts, sein Requiem, wollte Chopin laut Testament bei seiner Beerdigung spielen lassen.

… Einmal sagte Johannes Brahms: Man könne nicht mehr so schön wie Mozart komponieren, solle aber versuchen, zumindest ähnlich klar zu schreiben. Die Feinheit von Mozarts Musik wirkt auch über Jahrhunderte hinaus immer noch faszinierend und wird sicherlich noch ein zwar kaum erreichbares, aber trotzdem sehr inspirierendes Ideal für Musiker bleiben.

Text: Dr. Roman Salyutov, 2017