„Romantischer“ Mozart und sein Nachtleben im 19. Jahrhundert

Seine letzte Ruhe in einem Massengrab gefunden und fast in Vergessenheit geraten, hätte er gedacht, zu einem Idol in der Romantik zu werden? Trotz aller ästhetischen und persönlichen Unterschiede haben nahezu alle Komponisten der romantischen Epoche ihn vergöttert und in seinem Schaffen immer neue Inspirationsquellen für sich gefunden.

Wir widmen uns heute dem Nachtleben Mozarts im Schaffen solcher Künstler wie Frederic Chopin, Franz Liszt, Edvard Grieg und Max Reger - das sind sehr kontrastreiche und spannende Fälle der Rezeption der Mozartschen Musik, jeder in seiner Art.

Frederic Chopin - wie kann man über die Romantik sprechen, ohne seinen Namen zu erwähnen? Bereits als junger Pianist fand er viel Beachtung und Anerkennung und wurde zu einem der einzigartigsten Künstler seiner Zeit. Eine seiner ersten Kompositionen, die eine große Begeisterung hervorrief, war sein Opus 2 - die Variationen für Klavier mit Orchester über das Thema La ci darem la mano aus Mozarts Oper Don Giovanni. Gerade nachdem Robert Schumann, nicht nur als Komponist, sondern auch als Musikkritiker tätig, diese Variationen in einem Konzert unter Chopins Fingern erlebte, verlor er seine berühmte Phrase: "Hut ab, meine Damen und Herren, hier ist ein Genie". Das verdiente Kompliment galt Chopin in zweierlei Hinsicht - als Pianist und Komponist zugleich. Schon dieses frühe Werk hielt Schumann stilistisch für absolut reif. Chopin nimmt das Thema aus dem bekannten Duo von Don Giovanni und Zerlina und betont in seinen Variationen die schmeichelnde Umgangsart Don Giovannis wie auch die Lebendigkeit und Leichtigkeit dessen Natur. Er vermeidet große charakterliche Gegenüberstellungen und setzt mehr auf Eleganz in Kombination mit leichter schwebender Bravour. In der Tat weist der pianistische Stil dieses Werkes viel Gemeinsames mit Mozarts eigenem Klavierstil auf. Nicht zufällig äußerste sich Schumann, der Chopins Wirken mit regem Interesse verfolgte, ein anderes Mal in dem Sinne, dass wenn Mozart jetzt leben würde, würde er Chopins Klavierkonzerte komponieren.

Chopins großer Zeitgenosse Franz Liszt schätzte dessen Mozart-Variationen auch sehr, ging aber in seiner Rezeption der österreichischen Komponisten anders heran. Seine Art, Klavier zu behandeln - etwa Al Fresko, mit einer extrem breiten dynamischen Bandbreite und einer überwältigenden Virtuosität - zeigt sich in voller Kraft in seinen zwei großen Fantasien über mehrere Themen aus Mozarts Opern "Figaros Hochzeit" und "Don Giovanni". Überall herrschen große Spannungen und Kontraste, obwohl die beiden Werke unterschiedlich aufgebaut sind. Die Fantasie über "Figaros Hochzeit" ist deutlich einfacher: Liszt verwendet ein paar lebendige und entschlossene Themen, die eine lyrische und zart klingende Mitte umrahmen und am Ende durch mehrere Variationen in einem brillanten und pompösen Abschluss kulminieren. Eine ausgeprägte dramaturgische Entwicklung, die auf einen auflösenden Höhepunkt hinzielt, steht hier nicht im Vordergrund - vielmehr geht es in dieser Komposition um eine kollisions- und konfliktfreie Gegenüberstellung von Themen.
In seiner "Reminiscence de Don Juan" handelt Liszt anders - ein großes Konfliktpotential ist vorhanden, und dementsprechend entwickelt er seine Fantasie. Im Mittelpunkt steht der unerbittliche Konflikt zwischen Don Giovanni und dem von ihm umgebrachten Komtur. In der Introduktion erklingen zwei Themen des Komturs - drohend und sehr intensiv, wie eine Art Verhängnis für Don Giovanni. Ungeachtet dessen kommen danach die betont zärtlich-schmeichelnden Variationen über das Duo von Don Giovanni und Zerlina (La ci darem la mano, wie bei Chopin) - eine echte Verführungsszene, ein Zeichen dafür, dass Don Giovanni seinem Lebensstil unverändert treu bleibt. Die immer weiter lebendiger werdende Stimmung wird durch einen kraftvoll einstürzenden Einsatz des Komtur-Themas verdrängt, als würde man versuchen, den unbelehrbaren Wüstling mit Gewalt aufzuhalten. Aber was kommt daraus? Daraus kommt Don Giovanni absolut unbeeinflusst! Für den letzten Abschnitt der Komposition greift Liszt die vor Selbstbewusstsein sprühende sogenannte Champagne-Arie auf und lässt seine Hauptfigur triumphieren. Mit großem Schwung und unbändigem Bewegungscharakter schließt er die Entwicklung ab und liefert somit eines der schönsten und anspruchsvollsten Beispiele von Fantasien über Opernthemen in der Musikgeschichte.

Liszts jüngerer Zeitgenosse und Kollege Edvard Grieg, der damals führende norwegische Komponist, dessen Musik Liszt übrigens sehr schätzte, ging in seinem Umgang mit Mozarts Musik in eine ganz andere Richtung. Sehr ungewöhnlich sieht seine Mozart-Rezeption aus: Er wählte fünf Klaviersonaten von Mozart aus und komponierte dazu einen zweiten Klavierpart. Etwas wirklich Einzigartiges! Auch wenn Grieg versucht, die Mozartsche Stimme trotz des hinzugeschriebenen Parts deutlich heraushörbar zu gestalten (was ihm übrigens gut gelingt), rückt die Gesamtkonstellation von der Wiener Klassik klar ab und erlangt eine neue Qualität. Auf verschiedenen Ebenen - klanglich, harmonisch, rhythmisch, spiel- und satztechnisch - arbeitet Grieg und lässt farbenreiche Werke entstehen, die, besonders auf Basis von Mozarts Fantasie und Sonate c-Moll KV 475/KV 457, eine Bereicherung für die romantische Musik darstellen. Manche fragten damals und werfen die Frage auch heute auf, ob eine derartige Behandlung von Werken eines Genies akzeptabel und gerechtfertigt sei. Schließlich ist es eine Geschmackssache. Aber man soll dabei nicht vergessen, dass Griegs Ziel keine modernisierende Bearbeitung von Mozart war, die dessen Werke zeitgenössischer werden lassen müsste, sondern eher umgekehrt: Er schien zeigen zu wollen, was für ein enormes Potential diese Musik enthält - ein Potential, das zu einer wichtigen und ertragsreichen Inspirationsquelle für Komponisten der Romantik werden kann.

Edvard Grieg verstarb im Jahr 1907 - in der Zeit also, als sich die Moderne in der Musik schon aktiv durchsetzte. Von der Moderne blieb der Komponist aber nicht "angesteckt". Seinem jüngeren deutschen Kollegen Max Reger, der übrigens nicht nur ein bekannter Komponist, sondern einer der besten Organisten seiner Zeit war, ging es anderes. Er betrachtete sein Schaffen als eine Art Bindeglied zwischen Tradition und Moderne, dessen Bandbreite - quantitativ wie auch stilistisch – beeindruckend ist. Einen wesentlichen Platz darin nehmen Werke, denen Themen aus der Klassik oder dem Barock zugrunde liegen, ein. Dazu zählen auch seine Variationen und Fuge über das Thema aus Mozarts Sonate A-Dur KV 331 (1. Satz). Sie existieren in zwei Fassungen: für zwei Klaviere wie auch für Orchester. Faszinierend ist bei Reger immer, wie frei er seine Variationen gestaltet, sich vom Thema meilenweit entfernend und doch mal wieder zurückkommend. Reger legt in diesem Falle keinen Wert auf die stilistische Treue dem Autor des jeweiligen Themas gegenüber - dagegen setz er auf eine freie Entfaltung seiner eigenen Fantasie, deren Ausgangspunkt Themen Anderer waren. So ist es auch in den Variationen über Mozarts Thema. Reger benutzt in seinem Werk alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel des romantischen Klavierspiels und lasst seine Fantasie in der abschließenden Fuge den Höhepunkt erreichen. Zwar erkennt man Mozart in diesem anspruchsvollen Opus nur stellenweise, aber umso bewundernswerter ist es, zu welch neuen Welten man gelangen kann, inspiriert von einem Mozartschen Thema.

Nachdem wir uns hier eine allgemeine Vorstellung davon, zu was für neuen Ideen Mozart verschiedene Komponisten animieren kann, gemacht haben, lässt sich die Boden- und Grenzlosigkeit seiner Musik noch ein Stück besser begreifen. Aus seinem namenlosen Massengrab strahlt der Komponist seine Energie aus und lässt sie über die Grenzen von Jahrhunderten und Epochen hinaus wirken.

Text: Dr. Roman Salyutov, 2018