„…hätte nie gedacht, dass das ein Stück von Mozart ist!“

Gedanken über W. A. Mozarts Klavierfantasie c-moll KV 396

Gerade diese Worte folgten einer meiner öffentlichen Aufführungen von Mozarts Fantasie c-moll (nicht zu verwechseln mit der Fantasie c-moll KV 475!). Das Stück schien gut angekommen zu sein, aber – doch kein Mozart! Dies wunderte mich nicht besonders, weil nur Wenige diese schöne Komposition überhaupt kennen – sie bleibt bis heute im Schatten der nächsten kleinen, wirklich berühmt gewordenen Fantasie d-moll KV397, die einen festen Platz im Konzertleben eingenommen hat. Die Fantasie c-moll habe ich aber schon seit Langem im Repertoire, und umso interessanter ist es für mich, sie ab und zu konzertant vorzutragen und das Publikum damit vertraut zu machen, denn dieses Stück erscheint mir absolut einzigartig im ganzen Klavierwerk Mozarts, das sich – je nachdem, in welchem Kontext es in Konzertprogrammen erklingt – jedes Mal von einer anderen, neuen Seite wahrnehmen und erleben lässt.

Die Fantasie ist mit dem Jahr 1782 datiert und stellt ein Fragment einer Violinsonate dar, die angeblich im Rahmen einer größeren Sonatensammlung für Mozarts Frau Constanze geplant war. In dieser Zeit setzte sich der Komponist u. a. mit Werken J. S. Bachs auseinander: er studierte sie intensiv und erschloss immer weitere Tiefen der Kunst des Kantors aus der Leipziger Thomas-Kirche. In dieser Hinsicht weist Mozarts Fantasie einige besonders markante Parallelen zu Bachs Klavierwerken und vor allem zu seiner Chromatischen Fantasie d-moll auf. Eine markant improvisatorische Natur dieser Musik, die sich in den umfangreichen, klanglich massiven Arpeggien, rhythmisch entschlossenen, sogar imperativen Wendungen sowie mehreren langen, abgesondert erscheinenden, skalenartigen Tonabfolgen zeigt, mag an die Bach’sche Klavierkunst erinnern. Mozarts Fantasie ist aber weitaus mehr als nur eine – sei auch beeindruckende – Rezeption Bachs. Mozart verbindet hier einige Bach-Elemente mit seinen eigenen Merkmalen und gestaltet ein farbenreiches Klangbild, das – wenn man sich so ausdrücken mag – aus der Vergangenheit über Mozart in die Zukunft hinführt.

Die erwähnten, dynamisch starken und sich über mehrere Register hinausstreckenden Arpeggien des ersten Themas eröffnen die Fantasie und bringen zusammen mit der drauffolgenden, deklamatorisch wirkenden punktierten Rhythmik einen ersten Impuls: die Musik drängt in die Stille wie plötzlich ein, schwungvoll und majestätisch. Mit dem entsprechenden Pedalgebrauch vom Basston aus erzielt man eine so gut wie orgelartige Klangpalette – der Klang verbreitet sich gewaltig und füllt den Raum. Diese ersten Takte im Forte können in uns Assoziationen mit dem Anfang von „Rex tremendae“ in seinem Requiem erwecken, aber dann bringt mit sich bereits das erste Piano einen Kontrast, in dem sich ein anderer Mozart zeigt – mit viel Intimität und trauriger Nachdenklichkeit, die durch die für den Ausdruck von Leid und Schmerz sorgende Chromatik mit vielen Dissonanzen entwickelt wird und am Ende des ersten Abschnitts sogar den Eindruck einer Hoffnungslosigkeit vermittelt. So eine besondere Warmherzigkeit, ein trauriges Lächeln, eine, wenn man so will, Melancholie – ist es nicht eigentlich das, was uns später in Chopins Werken so fasziniert und rührt? Eine für Fremde unzugänglich bleibende Seele öffnet sich für einige Momente, lässt einen kurzen Einblick zu – und man wird voll und ganz hingerissen davon, welches Drama sich offenbart. In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass Robert Schumann Chopin einmal als Mozart des 19. Jahrhunderts bezeichnete, was seine innere Verwandtschaft mit Mozart betont.

Doch Mozarts lebensfrohe, aufmunternde Ausstrahlung ist nach dieser markant zum Ausdruck gebrachten Hoffnungslosigkeit nicht verloren gegangen: völlig unerwartet präsentiert sich das zweite Thema als selbstbewusst und entschlossen. Erheblich virtuos gestaltete Tonabfolgen in Doppelterzen in der Melodiestimme verleihen der Musik eine Brillanz, deren Ziel nicht bloß die Schau der Virtuosität, sondern die Markierung und Festigung einer neuen Geste ist – einer Geste, die nach der vorherigen, sich etwas in Resignation auflösenden Phrase, für eine Wiederbelebung der Sinne sorgt. Trotz der großen Energie ist hier kein ausgeprägter Jubel zu spüren: Mozart gestaltet die Melodie mit verschieden gruppierten Tonabfolgen diverserer Artikulation, einer vorwiegend mäßigen Dynamik und scheint hier mehr das plötzlich wieder erlangte seelische Gleichgewicht genießen und in Ruhe nachdenken zu wollen.

Der Anfang des mittleren Abschnitts zeichnet sich durch einen herausragenden dramatischen Ansturm aus: flehende, verzweifelte Rufe in der oberen Stimme werden von den drohenden „Schicksalsschritten“ im Bass gewaltig unterdrückt. Der aus Arpeggien bestehenden Begleitung teilt Mozart eine wichtige Rolle zu: wie große stürmische Wellen rollen sie auf und nieder und tragen zur Widerspiegelung der höchsten emotionalen Aufregung entscheidend bei. Ein derartiger Charakter der Begleitung ist für Mozarts Klavierwerke eigentlich ziemlich untypisch, denn sie hat inhaltlich sicherlich keine rein begleitende Funktion und beansprucht somit eine andere, für die damalige Interpretationskultur eher untypische Behandlung. Nicht raffiniert und bescheiden, sondern mit voller Ausdruckskraft und aus scheinbar sekundären, sogenannten allgemeinen Bewegungsformen, kristallisiert sich das Bild eines stürmischen Meeres oder – in übertragenem Sinne – eines inneren herzzerreißenden Sturms heraus. Hier überschreitet Mozart den Rahmen der technisch und ästhetisch bedingten Ausdrucksmöglichkeiten der damaligen Instrumente und richtet seinen Blick quasi in die Zukunft, denn für die Wiedergabe des Geistes dieser Musik ist das moderne Klavier nicht wegzudenken. Im diesem Kontext sei auch L. van Beethovens genannt, der das derartige Ausgangsmaterial (Arpeggien, Skalen usw.) kraft seines Talents in wirkliche Kunstwerke zu verwandeln vermochte (nennenswert sind in diesem Kontext z. B. seine Klaviersonate No. 14 cis-moll oder die Violinsonate No. 9 A-Dur). Von diesem Gesichtspunkt aus hat Mozart dieser Tendenz deutliche Impulse gegeben.

Nach diesem unglaublichen Ausbruch kehrt das erste Thema zurück, das die leidenschaftliche Aussage des Komponisten mit beibehaltener Spannung fortsetzt und genauso wie vorher allmählich nachlässt. Das danach von der Formstruktur ausgehende zweite Thema schließt das Werk ab – und lässt mehrere Fragen offen. Was ist überhaupt geschehen? Warum ist die Musik so ausgeklungen, als hätte es vorher keine solch dramatischen Kollisionen gegeben? Was ist mit der spürbaren Hoffnungslosigkeit, in die die Entwicklung des ersten Themas hineinführt – ist sie endgültig überwunden worden? So viel hat sich in diesem knapp 10-minütigen Stück abgespielt – und so Vieles ist unklar geblieben. Formal weist die Fantasie eine Sonatenhauptsatzform auf, ganz streng, auf den ersten Blick ohne jegliche Abweichungen. Hier birgt sich aber folgende Besonderheit: vom ersten Ton an zeigt sich ein reichhaltiges dramatisches Potential, wobei dieser Eindruck in dem mittleren Abschnitt – der Durchführung – verstärkt wird und eine besondere Weiterentwicklung, beispielsweise eine Formerweiterung, erwarten lässt. Doch bei Mozart sieht es anders aus: Die Themen wiederholen sich wie im Kreise, lösen sich formal bedingt ab, schließen das Werk ab – und lassen doch das Gefühl einer Unabgeschlossenheit. Alles scheint zu einfach zu sein… Möge man hier auf den Titel des Stücks zurückgreifen: Fantasie, eine künstlerische Fantasie, die sich kaum strikt vorprogrammieren lässt und keinen festen Regeln unterliegt, eine Fantasie, über deren Ursprung sich der Komponist selbst nicht immer eine Rechenschaft geben kann, eine Fantasie, die kein Produkt eines rationalisierten Schöpfungsprozesses ist, sondern aus den Tiefen des Unbewusstseins heraus erscheint. Die Musikgeschichte kennt zahlreiche Beispiele von Fantasien über mehrere Epochen hinweg, und die meisten von ihnen sind wirklich einmalig in ihrer Gestalt. Um sie zu begreifen, soll man sich von allen Klischees abstrahieren und mehr als sonst versuchen, sich – soweit überhaupt möglich – in die Person des jeweiligen Komponisten hineinzuversetzen. Mozarts drei Klavierfantasien – in c-moll KV 396, in d-moll KV 397 sowie in c-moll KV 475 – sind absolut einzigartig und wiederholen sich in keiner Weise. Der einfache Formaufbau der hier betrachteten Fantasie ist aber die Widerspiegelung eines komplexen Inhalts. Die auf den ersten Blick etwas künstlich verknüpften Abschnitte des Stücks geben eine äußerste Intensität des Gedankenlaufs des Komponisten wieder. Diese Musik beginnt nicht mit dem ersten Arpeggio und endet nicht mit der Auflösung der Dominante in die Tonika im letzten Takt – sie hat keinen Anfang und kein Ende und stellt nur eine kurze, für uns alle wahrnehmbare klangliche Verkörperung von Gedanken und Ideen dar, die Mozart anscheinend so intensiv beschäftigten, dass er sie dem Notenpapier zugetraut hat. Das menschliche Unbewusstsein bleibt trotz zahlreicher Untersuchungen und Theorien nach wie vor ein Rätsel, ein Geheimnis.

Über Mozart ist ein Berg von Büchern geschrieben, seine Musik erklingt immer wieder in Konzerten, Aufnahmen seiner Werke sind verfügbar, und so denkt man, man kenne Mozarts Musik ganz gut – und dann doch: „…hätte nie gedacht, dass das ein Stück von Mozart ist!“. Ich habe mich über eine solche Reaktion ehrlich gesagt sehr gefreut, weil ich es schön finde, dass diejenigen Bereiche der Kunst, die uns so bekannt vorkommen, uns immer neue Überraschungen bereiten und neue unbekannte Horizonte erschließen. Eine kurze, fast unbekannte Mozart-Fantasie – eine neue Welt, eine bodenlose Quelle zum Nachdenken…

Text: Dr. Roman Salyutov, 2014