„In den Tiefen des kompositorischen Bewusstseins“

Gedanken zu Mozarts Fantasie c-Moll KV 475


Hören: KV 475, Fantasie für Klavier c-moll

Wenn ein Musikwerk den Titel „Fantasie“ trägt, dann lässt das schon etwas Außergewöhnliches vermuten, denn was kann geheimnisvoller sein als eine spontane Improvisation eines Komponisten? Selbst für ihn bleibt sie häufig unerklärlich, folgt er doch seiner schöpferischen Intuition auf unterbewusster Ebene. Man kann sich sicher sein, wenn Komponisten gefragt würden, was sie in einem Fantasiestück in Klang gefasst haben, wären sie kaum in der Lage, dies zu verbalisieren.
Mozarts Fantasie c-Moll KV 475, entstanden in Wien am 20. Mai 1785, stellt ein Phänomen dar, das kein Gefühl eines innerlich abgeschlossenen Musikwerkes vermittelt, sondern im Laufe seiner Entfaltung immer mehr unbeantwortet bleibende Fragen hinterlässt. Das gilt allerdings nicht nur für den Inhalt, sondern auch für Struktur. Wenn man rein den Formaufbau betrachtet, wird eine Komposition mit sechs Abschnitten erkennbar, von denen der sechste Abschnitt eine etwas veränderte Wiederholung des ersten ist. Sechs Abschnitte, sechs Episoden – und für uns sechs Versuche, einen Einblick in die innere Welt ihres Schöpfers zu verschaffen.
Der erste Abschnitt – angefangen in der Haupttonart c-Moll – weist von den ersten Tönen an eine etwas unklare, konzentrierte und nachdenkliche, aber auch mysteriöse Stimmung auf. Mozart verlässt die Haupttonart sofort und begibt sich auf die Suche nach etwas Unbekanntem, was sich in einer für die damalige Epoche absolut unglaublichen harmonischen Entwicklung zeigt: In jedem Takt erscheinen immer neue Tonarten - Welten voneinander entfernt - und lassen uns in tiefste Tiefen des kompositorischen Bewusstsein tauchen. Langsam und mühevoll, scheinbar endlos.
Und dann – ein Lichtblick: Ganz am Ende des ersten Abschnitts, aus dem aussterbend klingenden Fis wird eine wunderschöne Melodie zur Welt gebracht. Der zweite Abschnitt fängt an – versöhnend, rein und fein, als wären die düsteren Gedanken weit weg geblieben. Man empfindet ab dem ersten Augenblick Ruhe und Seligkeit – nur nicht für lange. Mit einer kräftigen Wendung kehren wieder Irritation und Unruhe zurück, und die Stille nach den verklingen Tönen bleibt voller Spannung.
Der dritte Abschnitt ist von Aufregung und Schwung geprägt: Wieder wechseln sich verschiedene Tonarten und Motive ab, wie im von Unruhe durchdrungenen Strom des Lebens, die Klangkaskaden donnern geschwind und gelangen schließlich zu einem massiven Akkord – einem plötzlichen Halt am Abgrund, wonach man sich umschaut, aufatmet und zur Ruhe wiederkehrt.
Der vierte Abschnitt lässt wiederum liebevolle und zärtliche Gefühle aufblühen. Diese zweite Insel der Ruhe erhebt den Zuhörer in höhere Sphären, in denen die Schatten des Vergangenen zurücktreten. Aber für immer? Nein, die Melodie verliert allmählich ihren langen Atem und zerfällt in kleine angespannte und seufzend fragende Motive – was nun, was mag jetzt kommen? Einige Momente voller Stille – einer Stille vor dem Sturm!
Wie aus dem heiteren Himmel bricht eine unbändige, stürmische und fieberhaft pulsierende Musik aus – der fünfte Abschnitt. Die Töne strömen und fließen, keine Spur von der bisherigen Ruhe und Versöhnung, alles ist vergessen und verschwunden. Doch die gewaltige Energie des Ausbruchs lässt allmählich nach, die Bewegung hält an und verliert sich in den resignierend verklingenden zuerst Passagen, dann kurzen Motiven und schließlich einzelnen Tönen. Die Stille ist wieder da – eine eher verheerende Leere...
Im abschließenden sechsten Abschnitt wird das thematische Material des ersten Abschnittes aufgegriffen, dessen Entfaltung mit einigen Veränderungen genauso wie vorher gemessen und in konzentriert meditativer Stimmung verläuft. Schon wieder düstere Klänge, Aussichtslosigkeit in jedem Ton, in der seufzenden Pause... – und plötzlich drei blitzartig auffliegende Passagen, überraschend laut, stark und energisch, als hätte man für diesen Wurf alle verbleibende Kraft gesammelt, um zu zeigen: Der Wille zum Widerstand ist da, man versinkt nicht in unendlich düsteren Tiefen, das Leben geht weiter!

Text: Dr. Roman Salyutov, 2015