Mozart in den Augen eines Diktators

Ein merkwürdiger Titel, nicht wahr? Welcher Diktator wird hier denn gemeint? Vielleicht ist das Franz Josef, der damalige Herrscher von Österreich-Ungarn? Nein – mit Mozarts Zeit hat es nichts zu tun, und diese Geschichte ereignete sich in einer ganz anderen Epoche und nämlich in der Sowjetunion in der ersten Hälfte der 1940er Jahre, und der erwähnte Diktator war kein geringerer als ... Josef Stalin.

Es ist allgemein bekannt, dass das Kulturleben in der sowjetischen Zeit der Geschichte Russlands einen sehr hohen Stellenwert in der Gesellschaft genoss. Es war im wahrsten Sinne des Wortes eine echte Blütezeit der Kultur – insbesondere Literatur und Musik, deren Schöpfer den ideologischen Hürden zum Trotz unsterbliche Werke hinterlassen haben. Im Bereich der Kompositionen glänzen beispielsweise solche Namen wie Sergej Prokofiev und Dmitri Schostakowitsch, als Interpreten werden unter anderem Pianisten Sviatoslav Richter und Emil Gilels, Dirigent Eugen Mravinski, Geiger David Oistrach und viele andere international gefeiert. Diesen großartigen Talenten ist zu verdanken, dass das sowjetische Regime eine im Westen besonders attraktiv wirkende Fassade hatte – eine Art kulturelles Gesicht, und diese Fassade wurde auf allerhöchster Regierungsebene gepflegt.

Josef Stalin war bekanntlich ein Liebhaber der klassischen Musik. In seinem turbulenten Alltag fand er immer wieder Zeit für Theater- und Konzertbesuche oder auch Radiosendungen. Dabei muss man sich natürlich im Klaren sein, dass bei weitem nicht alle Künstler seiner Zeit verschont blieben – der Repressionswahn der damaligen Jahre verschlang auch viele Künstlerleben, sodass an sich keine Musiker, Dichter, Schriftsteller oder Regisseure einen absoluten Freipass hatten. Umso bemerkenswerter sind einzelne überlieferte Episoden, die schier unglaublich sind.

Eine der Lieblingspianistinnen Stalins war Maria Judina (1899 – 1970). Geboren in einer jüdischen Familie, konvertierte sie mit 20 Jahren zum Christentum und war ihr Leben lang überzeugt religiös. Ihre Religiosität verbarg sie nicht, was in der atheistisch ausgerichteten Sowjetunion natürlich überhaupt nicht gut ankam und jederzeit Grund für Repressionen werden konnte. Also war Judina schon allein deshalb eine Verdachtsperson, und dass Stalin ihre Kunst subjektiv mochte, war keine Garantie für ihre Unantastbarkeit.

Einmal, im Jahr 1943 oder 1944, hörte Stalin eine Radiosendung, in der Maria Judina Mozarts Klavierkonzert Nr. 23 A-Dur spielte. Die Aufführung gefiel ihm offensichtlich so sehr, dass er sofort den Sender anrief und sich erkundigte, ob es eine Aufnahme (Schallplatte) mit dieser Interpretation gab. Die in Panik geratenen Mitarbeiter bejahten seine Frage – einfach aus Angst, Nein zu sagen, obwohl in Wirklichkeit keine Aufnahme vorhanden war und die in der Sendung übertragene Aufführung eine Live-Übertragung gewesen war. Stalin bestellte sich eine Schallplatte für den nächsten Morgen, und das Personal des Senders musste diese also innerhalb einer einzigen Nacht herzaubern. Judina wurde unverzüglich angerufen und buchstäblich aus dem Bett geholt und ins Tonstudio gebracht, zwei Dirigenten mussten zwischendurch gewechselt werden, weil sie dermaßen verängstigt waren, dass sie das blitzschnell zusammengestellte Orchester nur störten. Endlich konnte ein dritter Dirigent seine Nerven in den Griff bekommen, sodass die Arbeit an der Aufnahme pünktlich bis zum Morgengrauen abgeschlossen war und Stalin seine Schallplatte erhielt.

Fasziniert von dieser Interpretation schickte Stalin einen Briefumschlag mit 20.000 Rubel an Judina – einer wahnsinnigen Summe (beim mittleren Gehalt von ca. 400 Rubel). Und Judina? Sie schreib ihm zurück, sie danke ihm für seine Unterstützung und werde Tag und Nacht für seine Seele beten, damit der Allmächtige ihm seine schrecklichen Verbrechen gegen sein Land und Volk verzeihe. Dieser sei gnädig und werde es ihm verzeihen. Das Geld gebe sie an eine Kirche, die sie besuche ...
Ein Mitarbeiter seines Büros, der Judinas Schreiben an Stalin überreichte, hatte bereits einen vorbereiteten Arrestbefehl für sie dabei, und ein Wort des Diktators hätte genügt, diesen Befehl sofort umzusetzen. Aber Stalin las ihren Brief durch, verlor kein Wort und lies somit verstehen, dass Judina dafür nicht zu verfolgen war. Sie hatte danach gewisse Schwierigkeiten mit ihren Konzerten, die teilweise abgesagt wurden, aber das Leben kostete ihr dieses Schreiben nicht. Als Stalin ca. 10 Jahre später infolge eines Schlaganfalls am 5. März 1953 in seiner Residenz bei Moskau verstarb, fand man genau die Mozart-Aufnahme mit Judina in seinem Plattenspieler – das Klavierkonzert Nr. 23 war wohl die letzte Musik, die er je hören würde ...

Man kann unendlich lang darüber diskutieren, warum der mächtige Diktator Judina für einen solch „frechen“ Schritt nicht einfach aus dem Leben strich – letztendlich ließ er auch für viel harmlosere Sachen schwerstens bestrafen. Interessant erscheint dabei auch der Punkt, inwieweit Mozarts Musik selbst, die Judina aufführte, eine Rolle in dieser Geschichte spielte.

Als unbelesen kann man Stalin sicher nicht bezeichnen – er besaß eine große Bibliothek, wo auch viele Meisterwerke der Weltliteratur vertreten waren. Es ist somit nicht auszuschließen, dass er auch Pierre Beaumarchais kannte, dessen Stück über Figaro Mozart für seine Oper „Figaros Hochzeit“ verwendete. Vielleicht las er nicht das literarische Stück selbst, kannte aber Mozarts Oper. Man soll nicht vergessen, dass Beaumarchais Komödie zu Mozarts Zeit in Österreich verboten wurde – aufgrund ihres klar ausgeprägten antifeudalistischen Charakters, wo ein einfacher Mensch (in Person von Figaro) über die aristokratische Schicht (in Person von Graf Almaviva) triumphiert. Sarkasmus und sozialkritische Ausrichtung des Stücks ist zu erkennen, und Mozart und sein Librettist Lorenzo da Ponte mussten viele Hindernisse überwinden, bis die kaiserliche Zensur die Aufführung der Oper erlaubte. Derartige Restriktionen in Kulturpolitik, sogar deutlich mehr, zeichnetet bekanntlich auch die sowjetische Zeit aus.
Mozarts Klavierkonzert Nr. 23 stammt genau aus der Periode, in der er auch an „Figaros Hochzeit“ arbeitete.
Der lebendige, humorvolle Charakter der Außensätze, insbesondere des Finales mit seinem unbändigen Schwung, lassen sich sofort einen solchen Figaro ausmalen – eine erfinderische, etwas freche und lebensgewandte Person, die auch nicht vor den Herrschern Halt macht und sich nicht einschüchtern lässt. Er lässt sich nicht die Freude nehmen und kommt mit seiner schlichten, aber überzeugten Art gut durch.
Wenn man sich heute diese – im wahren Sinne des Wortes historische – Auftragsaufnahme von Maria Judina anhört, dann erlebt man gerade einen solch faszinierenden, starken Charakter. Um diese Zeit – die erste Hälfte der 1940er Jahre – wütete der Zweite Weltkrieg, die erste große Welle des stalinistischen Terrors (Ende der 1930er) lag erst sehr kurz zurück… In Schaffen mehrerer Komponisten und Interpreten dominierte die strenge, tragische Note, auch bei Judina selbst. Und trotzdem wandte sie sich an dieses Stück Mozarts – eines der lebensgewandtesten Künstler, der die Harmonie und Freude vor allem anderen schätzte und einen Einklang mit sich und der Welt anstrebte. Und die Grundidee – Freude am Leben und das Streben nach Leben trotz aller Umstände – wird von Judina sehr beeindruckend vermittelt. Die tiefe Trauer des zweiten Satzes Adagio stellt hier einen klaren Kontrast dar – als konzentrierte Nachdenklichkeit ...

Gut, dies könnte vielleicht einigermaßen erklären, warum Stalin diese Art der Interpretation gerade in den sehr schweren Zeiten besonders ansprechend fand, aber dies erklärt doch nicht, wieso er Judina nach ihrem mutig offenen Brief verschonte. Wie gesagt, man könnte noch sehr lange darüber spekulieren und eventuell zu keinem absolut zufriedenstellenden Ergebnis kommen. Eine der Vermutungen könnte sein, dass Stalin durch diese Art der Interpretation dieser Musik die Kraft des menschlichen Geistes auf eine ihm noch nicht bekannte Art vermittelt bekam: Es war nicht die aus der Situation heraus resultierende, gewaltige und unbiegsame Kraft des widerstehenden Geistes, wie beispielsweise in den monumentalen sinfonischen Werken von Schostakowitsch, sondern es scheint die Kraft einer anderen Kategorie zu sein, die sich über die verwundete Welt erhebt und gerade in den dunkelsten Stunden der Geschichte ein Vorbild von Trost, Harmonie und Unabhängigkeit wird – als eine Art seelischer Erholung. Selbst ermüdet und sogar erschöpft von den heftigsten kriegerischen Geschehnissen seines Landes, konnte Stalin diese Art von Kunst gerade sehr gut gebrauchen, die zu seinen Betrachtungsperspektiven eine weitere, ihm noch nicht bekannte, aber anscheinend sehr wirkungsvolle Sichtweise hinzufügte. Und, die rücksichtslosen Zeilen aus Judinas Brief lesend, konnte er gerade denken, dass nur dank solch geistesstarken Menschen ein Widerstand im Krieg gegen den Faschismus nicht nur möglich war, sondern auch zum Erfolg führen konnte. Vielleicht gerade in diesem Moment konnte er die Größe der unsterblichen Musik noch einmal wahrnehmen und somit Judina ohne Konsequenzen leben lassen. Eine spannende, indirekte Begegnung einer großen Künstlerin und eines Diktators, wo Mozarts Musik eine entscheidende Vermittlungsrolle spielte.

Text: Dr. Roman Salyutov, 2020