KV 65 St. Michael, Erfstadt Blessem

Die Messe in d-Moll KV 65 von W. A. Mozart wird selten aufgeführt. Dabei ist sie als missa brevis in besonderer Weise geeignet, innerhalb einer Liturgie eingesetzt zu werden. Sie ist kompakt, braucht als Instrumente neben dem Continuo nur die Violinen I und II, vier Solostimmen ergänzen den Chor.
Außergewöhnlich ist ihre "zäh festgehaltene Molltonart" (H. Abert, W. A. Mozart, Leipzig 1919 - 21, S. 163, zitiert nach Willi Schulze im Vorwort der Partitur, Ausgabe Carus, die sogar bei den ansonsten "fröhlichen" Sätzen Gloria und Sanctus beibehalten wird. Dies soll mit der Entstehungszeit der Messe für das liturgische Jahr, nämlich der Fastenzeit, zusammenhängen.
Mozart schrieb sie 1769, als 13-Jähriger. Schaut man tiefer in das Werk und bemüht sich, die kompositorischen Elemente zu erkennen, aus denen die Musik entstanden ist, wird man überrascht davon, wie sich diese zu einem Bild formen. Zwei Sätze der Messe seien hier betrachtet.


Kyrie eleison

Nur vom Continuo begleitet singt der Chor ruhig und kräftig (adagio und forte) eine sechstaktige Einleitung. Die Anrufung Kyrie eleison wirkt gravitätisch, durch das Fehlen der Streicher besonders unmittelbar, weil der Mensch gleichsam vereinsamt ist. Noch intensiver wird dies durch die Wiederholung des Wortes eleison (= erbarme dich): Kyrie eleison, eleison, eleison, (= Herr, erbarme dich, erbarme dich, erbarme dich). Der Tenor singt das eleison sogar ein viertes Mal. Durch die Wiederholung des eleison wirkt diese Textunterlegung dringlicher als ein aneinandergereihtes Kyrie eleison, Kyrie eleison.
Die drängende Bitte und das Alleingelassensein von den Instrumenten sind zwei wichtige formale Elemente, die später in eine Gesamtbetrachtung einbezogen werden.
Nach der Einleitung beginnt ein Satz, der durch seine Textaufteilung üblicherweise dreiteilig ist: Kyrie eleison, Christe eleison, Kyrie eleison. Mozart hat ihm die Tempobezeichnung Allegro gegeben, wörtlich: munter, was aber eher erstaunlich ist, wenn man sie wirklich wörtlich nimmt, zumal Mozart in den Takten 12–13 und entsprechend in den Takten 32–33 einen Lamento-Bass komponiert hat, eine musikalische Figur der Klage und des Schmerzes. Es kann nur gemeint sein, dass das Tempo sich von der Einleitung mit fließenden Vierteln deutlich absetzen muss.
Man betrachte die unten abgedruckte Stimme des Chor-Soprans. Ganz deutlich wird, dass die Melodie sechs Takte lang überhaupt nicht dem vorgegebenen Dreivierteltakt folgt, sondern sog. Hemiolen bildet. Gelegentlich haben die Unterstimmen sogar gänzlich andere Betonungen als der Sopran.
Man kann sagen, dass das musikalische Motiv nicht zum angegebenen Takt gehört, dort nicht zu Hause ist. Nach sechs Takten wechselt jedoch die rhythmische Faktur, der Dreivierteltakt wird erkennbar und bleibt zwölf Takte lang – allerdings auch nur zwölf Takte lang – klar erhalten.
Die formale Anlage des Allegro-Satzes ist gemäß der Dreiteiligkeit des Textes eine ABA'-Form, was niemanden verwundern wird. Allerdings lässt Mozart schon im mittleren Abschnitt, dem sog. Christe-Teil, den Chor wieder mit dem Kyrie beginnen – und mit den "falschen" Betonungen. Diese "Unvollkommenheiten" werden am Schluss des Satzes noch stärker, wenn der Dreier-Takt sich um ein Viertel verschiebt bei zwei Takten: 2 - 3 | 1 - 2 - 3 |1. Diese Störungen fallen aber nur demjenigen auf, der die Noten kennt.
Derartige "Fehler" werden in der Kunst meist für ein Bild, eine Aussage verwendet; sie sind also von Mozart gewollt und seien nun zusammen gefasst:
- Der gravitätischen Einleitung fehlt ein wichtiges Merkmal der Gravitas, die instrumentale Begleitung.
- Der Hauptteil hat einen vorgeschriebenen Dreivierteltakt. Über mehr als die Hälfte aller Takte wird er nicht eingehalten.
- Die zu erwartende ABA'-Form wird zwar von der Musik erfüllt, aber nicht vom Text. Diese Beobachtungen weisen auf "Unvollkommenheiten" in der kompositorischen Faktur hin, auf etwas, das ergänzt, verbessert werden will. Ein sinnreiches Bild zur drängenden Bitte Herr, erbarme dich!


Sanctus

(Jesaia 6,3)
Duo Seraphim clamabant
alter ad alterum:
Sanctus, sanctus, sanctus
Dominus Deus Sabaoth:
Plena est omnis terra
gloria eius.
Zwei Seraphim riefen sich einer
dem anderen zu:
Heilig, heilig, heilig ist
der Herr Gott der Heerscharen.
Erfüllt ist die ganze Erde von
seinem Ruhm.

Liturgischer Text:

Sanctus, sanctus, sanctus
Dominus Deus Sabaoth:
Pleni sunt caeli et terra
gloria tua.

Hosanna in excelsis!

Benedictus, qui venit
in nomine Domini!
Hosanna in excelsis!
(Mt 21,9)

Hochgelobt sei, der da kommt
im Namen des Herrn!

Zuvor eine allgemeine Information: Der liturgische Text des Sanctus ist vorgegeben. Woraus er zusammengestellt worden ist, kann oben abgelesen werden. Der Text aus Jesaia war allen Komponisten sakraler Musik bekannt.
In den meisten Kompositionen wird bei den ersten Worten das eher getragene Bild des Herrn der Heerscharen umgesetzt, während das Hosanna den Jubel des Volkes bei Jesu Einzug in Jerusalem widerspiegeln soll.
Das Benedictus wird fast immer vom vorhergehenden Sanctus abgetrennt, was eher liturgisch-praktische Gründe hat, und den Solisten übertragen. Das nachfolgende Hosanna bildet dann die musikalische Klammer.
Mozart hat bei dieser Messe eine ganz andere musikalische Idee umgesetzt. Er beginnt mit nur zwei Stimmen, Sopran und Alt, die dreimal das Wort Sanctus im Forte singen, aber gegenseitig versetzt, ganz so, wie die oben beschriebenen Seraphim sich dies zurufen. Dasselbe tun anschließend Tenor und Bass. Dabei werden sie von den Violinen begleitet, die sich ihre kurzen Motive ebenfalls "zurufen". Es geht vierstimmig weiter: homophon, isorhythmisch, pro Takt nur eine Harmonie, die aber bei Deus eine große Septime enthält. So etwas klingt gewaltig, zumal die Streicher nun mit sich wiederholenden Achteln die Harmonien der Takte – in der Violine II sogar mit Doppelgriffen – massiv füllen, ganz im Sinne des Bildes von Heerscharen (=Sabaoth).
Pleni sunt caeli et terra gloria tua (Erfüllt sind Himmel und Erde von deiner Herrlichkeit): Es sind kleine, aber deutliche Bilder: Pleni füllt einen ganzen Takt (mit Oktavsprung im Bass, der alle Töne der Tonleiter umfasst und daher das Allumfassende bezeichnet); pleni sunt caeli singen danach die Oberstimmen, die grundsätzlich eingesetzt werden, wenn es um himmlische ("englische") Musik geht. Die Unterstimmen übernehmen den himmlischen Gesang dann auf die Erde. Die Fülle der Herrlichkeit erscheint als Antizipation, als ein Zu-früh-Einsetzen des Wortes gloria. Der Takt greift schon in den vorhergehenden ein und ist mehr als voll, er fließt über.
Das sich anschließende Hosanna in excelsis ist in vieler Hinsicht erstaunlich: Es ist wohl das kürzeste Hosanna, das Mozart geschrieben hat. Der vorgegebene Dreivierteltakt ist nirgendwo zu erkennen, da er durch Synkopen und Hemiolen „außer Kraft” gesetzt wird. Sollte dies vielleicht dem tumultartigen Jubel des Volkes bei Jesu Einzug in Jerusalem nachempfunden sein?
Text: Josef Vieth



KV 65, Messe d-Moll (Missa brevis)
Orchester: ein Kammerorchester
Solisten: Cecilia Acs (Sopran), Carola Quodbach (Alt), Maximilian Fieth (Tenor), Wolfgang Georg (Bass)
Leitung: Josef Vieth
Aufnahme am 19. September 2015 in der kath. Pfarrkirche St. Michael, Erfstadt Blessem

KV 65, Messe d-Moll
KV 65, Messe d-Moll, Kyrie
KV 65, Messe d-Moll, Gloria
KV 65, Messe d-Moll, Credo
KV 65, Messe d-Moll, Sanctus
KV 65, Messe d-Moll, Benedictus
KV 65, Messe d-Moll, Agnus Dei